Fortsetzung.
��� �Nach wie vor wurde der Tag
folgenderweise geteilt: bis zum Frühstück (Tee und Brot), bis zum
Mittagessen (Suppe) und bis zum Abendtee. Die Suppe, ein halbes Liter pro
Kopf, war hier etwas nahrhafter als in Cholm:
außer der Steckrübe und Kohlrabi gab es hier ungeschälte
Kartoffeln. Ich konnte mich lange an den Geschmack und Geruch der
Kartoffelschalen nicht gewöhnen, der stärker als der Geschmack
und der Geruch der Suppe selbst war. Zweimal in der Woche wurde die Suppe
nicht aus dem Gemüse, sondern aus der Grütze, meist
Hafergrütze, gekocht. Auf diese Tage warteten wir mit Ungeduld, denn
diese Suppe war sättigend.
Zu einer bestimmten Zeit wurde nach der Suppe eine
Gruppe Träger geschickt, deren Rückkehr aus der Küche die
ganze Baracke beobachtete. Die Träger trugen die Bottiche auf den Stangen
auf ihren Schultern. Wenn die Bottiche dampften, gab es heute dünne
Gemüsesuppe, die dicke Grützsuppe dampfte nicht. Die Arbeit der
Träger wurde belohnt: in der Küche beauftragte man sie mit dem
Spülen der Bottiche, in denen es noch Suppenreste gab.
��� Die Bottiche wurden unter den
Brigaden verteilt und der von der Brigade gewählte Eingießer
verteilte die Suppe unter allen. Wenn er die Suppe so verteilen konnte,
daß sie in einem Napf ebenso dick war wie in den anderen, wurde er
von allen geachtet. Und trotzdem wurden die Näpfe verlost. Sie wurden
zusammengestellt, einer der Brigadenmitglieder wandte sich ihnen den
Rücken zu und ein anderer zeigte auf einen davon und rief: �Für
wen?� Der Erste antwortete: �Für Petr�, �Für Iwan�, �Für
dich�usw. In unserer Brigade verteilte die Suppe ein älterer Schneider
namens Iwan Spiridonowitsch, der einen Professorbart und eine Brille hatte
und die ganze Zeit etwas nähte.
���� Ebenso verantwortungsvoll war
die Brotverteilung. Das Brot verteilten wir der Reihe nach, denn wir
mißtrauten einander und ein jeder hörte sich die Vorwürfe
und Beleidigungen satt, obwohl er sich bemühte, das Brot gerecht zu
verteilen. Es gab für die Brotverteilung ein besonderes Zeremoniell.
Unter aufmerksamen Blicken aller zwölf Brigadenmitglieder und ihren
Ratschlägen legte er unter das Brot das Papier unter, in das das Brot
eingewickelt war, schhnitt zuerst beide Brotkanten ab und teilte sie in
zwölf Teile. Dann schnitt er das Brot auch in zwölf gleiche
Teile, prüfte ihre Größe und wog sie mit Hilfe einer
speziellen selbstgebastelten Waage ab. Diese Waage stellte einen kleinen
Holzbalken mit einer Schnurschlinge in der Mitte dar, an beiden Balkenenden
hingen an den Schnüren kleine Holzpfählchen. Man hängte
diesen Holzbalken an, steckte an ein Pfählchen ein Stückchen Brot
an und verglich damit der Reihe nach alle anderen. Als Zugabe dienten die
nach dem Brotschneiden gebliebenen Krümel. Danach wurden diese
Brotstücke genauso wie die Suppe verlost.
��� Nach dem Frühstück kam
zu uns ein Arzt, auch einer der russischen Kriegsgefangenen. Er brachte ein
Kofferchen mit den Instrumenten und Bindemitteln mit. Um ihn zu besuchen,
mußte man Schlange stehen. Auch hier gab es als Medikamente
Papierbinden und Rivanol. Schon bei der ersten Verbanderneuerung bemerkte
ich, daß meine Wunde sich allmählich zuzog.
Zwischen diesen alltäglichen Ereignissen lebte
die Baracke ihr eigenes recht dynamisches Leben.
In den Durchgängen liefen den ganzen Tag die
Barackekaufleute hin und her und boten Zwirn, gebrauchte Rasiermesser,
Nähnadeln, Knöpfe, Löffel an, was können die Soldaten
noch haben? Als Wechselgeld dienten hier eine Prise Tabak oder ein
Stück Brot.
Die am Handel nicht Interessierten bildeten Gruppen
und erinnerten sich an etwas oder hörten sich die Erzählungen der
anderen an. Es gab unter uns zwei Erzähler, die eine richtige
erzählerische Gabe hatten, und neben denen sich immer viele
Zuhörer sammelten. Die handelnden Personen ihrer Sagen sahen mit ihrem
bildhaften Aussehen und Charakter sehr überzeugend aus. Zum
Zeitvertreib erzählte ich auch nach, was ich einst gelesen hatte, und
hatte bald meine eigene Zuhörergruppe. Ich erzählte etwas aus
Jack London, Jules Verne, altgriechische Mythen, Sagen über den Seemann Sindbad usw. Die
Trilogie über den Kapitän Nemo und Kapitän Grant erfreute
sich eines großen Erfolges und ich ezählte sie mehrmals nach.
Die Unternehmungslust in dieser Welt wunderte mich
sehr. Es gab hier wahre Meister. Zu ihnen gehörte unser Brigadier,
Berufsschneider Iwan Spiridonowitsch. Seine Kunden waren die Deutschen aus
dem Lagerwachdienst, die dann die von ihm genähten
Kleidungsstücke den Stadteinwohnern verkauften und ihre Provision
verdienten. Eines besonderen Erfolges erfreute sich ein Berufsmaler aus
einer anderen Baracke. Er malte die Porträts nach den Photos und
verdiente damit sehr gut, für seine Arbeit bekam er Brot und andere
Lebensmittel. Die Lebensmittel tauschte er gegen gute Kleidung, Schuhe ein
und prahlte mit den Uhren an den beiden Armen und einer Taschenuhr. Es gab
in unserer Baracke zwei Menschen, die Körbe aus den dicken farbigen
Schnüren kunstvoll flechteten. Der Gerfreite, der die Lagerverwaltung
in unserer Baracke vertrat, flechtete mit ihnen zusammen, er verkaufte auch
die fertigen Erzeugnisse und kaufte wollene Schnüre ein.
Aus den Aluminiumnäpfen wurden Zigarettenetuis
erzeugt, auf denen Monogramme und Zeichnungen gekratzt wurden. Es gab auch
einen Meister, der aus silbernen Münzen Ringe machte. Bis 1961 waren
in Rußland echte silberne Münzen in Umlauf, die 1921-1922
geprägt worden waren. In den letzten Jahren waren sie selten, ich
hatte aber eine ganze Blechdose gespart, die beim Umzug in unsere heutige
Wohnung verlorenging. In der Vorkriegszeit traf man silberne Zehn-,
Zwanzig- und Fünfzigkopekenstücke sehr oft. Aus diesen
Münzen wurden Ringe gemacht. Das interessierte mich, freiwillig und
selbstlos bot ich den Meistern meine Hilfe an und schien die
Herstellungstechnologie zu verstehen.
Die Münze wurde gelocht, an das dünne Ende
eines kegelförmigen Metallstiels gesetzt, dann mit einem kleinen
Hammer zum dicken Ende des Stiels vorsichtig vorgeschoben. Letzten Endes
verwandelte sie sich in einen breiten Ring, den man mit Asche
beschütten und mit dem Soldatenmanteltuch polieren sollte.
Die Arbeit dieser Meister wurde gut belohnt und sie
hungerten nicht. Die anderen, darunter auch ich, mußten mit der
deutschen kargen Ration auskommen. Wir hatten immer einen erbärmlichen
Hunger. Nicht alle konnten ihn ertragen. Es gab Menschen, die über
sich Kontrolle verloren und sogar die Kartoffelschalen aufaßen. Ich
versuchte immer in der Unterhaltung mit den Freunden den Hunger zu
vergessen.
���� Von den Menschen, die in der
Kriegsgefangenschaft seit dem Kriegsbeginn waren, und es waren sehr wenige,
erfuhr ich, daß dieses Lager fast ein Erholungsheim war, verglichen
mit dem Lager am Anfang des Krieges, als die Deutschen für Tausende
Kriegsgefangene ein Gelände mit dem Stacheldraht umzäunten und
waffenlose, hungrige und verzweifelte Menschen dort vor Hunger, Kälte
und Krankheiten sterben ließen. So erfuhr ich auch über die
schrecklichsten Lager: Umanskaja Jama und Salaspils. Gleichzeitig kam es in
den Lagern in der Ukraine vor, daß die Deutschen die Kriegsgefangenen
freiließen oder für das Lösegeld den Frauen ausgaben, die
zu den Lagern kamen und sagten, es seien ihre Männer. Einige auf
solche Weise befreiten Menschen wohnten in ihren Familien bis zum
Eintreffen unserer Truppenteile und wurden zum zweiten Mal mobilisiert.
Man hatte Glück, wenn man bei einem �Bauern�, d.
h. bei einem deutschen Gutsbesitzer arbeitete. Obwohl man dort als ein
Sklave arbeiten sollte, war man dort immer satt. Der Gutsbesitzer verstand:
ein hungriger Arbeiter ist kein Arbeiter. Man erzählte, manchmal wurde
ein Kriegsgefangener zu einem sozusagen Familienmitglied und ersetzte der
Hausfrau ihren Mann, der irgendwo kämpfte oder im Krieg gefallen war.
��� Unter den Kriegsgefangenen gab
es sehr viele Bauern. Sie erzählten über ihr Leben vor der
Kollektivierung und im Kolchos sehr gern und ich hörte ihnen gern zu.
Es gab auch sehr viele gebürtige Mittelasiaten.
Sie bildeten Gruppen und flüsterten einander etwas zu. Von Zeit zu
Zeit rief einer von ihnen etwas aus, alle nahmen gehorsam die gleiche Pose
ein: die Beine untergeschlagen, die Hände vor dem Gesicht wie ein
aufgeschlagenes Buch, dann strichen sie ihr Gesicht wie auf Befehl mit den
Händen wie beim Waschen. Mein Nachbar, der ein Tadschike war,
erzählte mir viel über die muslemischen Bräuche, über
die Natur und Feldarbeiten, über das wunderliche Obst in seiner
Heimat. Alle Barackeneinwohner waren ganz freundlich, ich kann mich an
keine ernsten Streitfälle erinnern, die in den großen
Menschenmengen unumgänglich sind. Das Einzige, woran ich mich erinnern
kann, waren grausame Abrechnungen mit den Dieben. Ein auf frischer Tat ertappter
Dieb wurde brutal verprügelt und hätte sich der deutsche Gefreite
in die Sache nicht eingemischt, wäre er zu Tode geschlagen.
Über die Situation in der Welt und an den
Fronten erfuhren wir aus der Zeitung für die Kriegsgefangenen, die man
uns brachte, sie hieß �Sarja�. Das war eine bewundernswerte Zeitung.
Ich weiß nicht, wer ihr Verleger und Redakteur waren, aber diese
für die deutsche Propaganda bestimmte Zeitung brachte so kunstvoll
geschriebene Artikel, daß man zwischen den Zeilen über die wirkliche
Lage Deutschlands lesen konnte, das sich schon seiner Niederlage
näherte. So erfuhr ich, daß unsere Truppen Anfang Sommer 1944
die ganze UdSSR befreiten und nach Polen einrückten, daß die
westliche Küste Deutschlands vom Eintreffen der Alliierten bedroht
war, die bereits in Italien kämpften, das von den Deutschen nach der
Meuterei von Marschall Badoglio,
der das Schließen eines Separatfriedensvertrags verkündet hatte,
besetzt war.
��� Zweimal wurde das monotone Leben
der Baracke gestört.
��� Zum erstenmal erklärte man
uns, vor uns werde ein russischer General aus der Wlassow-Armee auftreten,
ich glaube, sein Name war Merzalow. Wir wurden in ein Lagergebäude
gebracht, in dem es einen Saal für Filme und Konzerte gab. An den
Wänden standen bewaffnete MPi-Schützen. Wir setzten uns auf die
Bänke. Auf der Bühne erschien ein untersetzter ältlicher
Mann in deutscher Uniform, aber mit den breiten goldenen
Schulterstücken des russischen Generalmajors. Lange und langweilig
berichtete er über das schöne Leben im vorrevolutionären
Rußland, über die Grausamkeiten der Bolschewiken, über die
Aufgaben der Russischen Befreiungsarmee bei der Wiederherstellung der
christlichen Werte und Befreiung Rußlands vom Bolschewismus. Er rief
uns zum Eintritt in die ROA auf, versprach die Behandlung aller Kranken und
Verwundeten in einem deutschen Lazarett. Seine Aufrufe riefen aber keine
Begeisterung hervor. Nach seiner Frage, ob jemand Wunsch hat, der ROA
beitztreten, meldete sich niemand. Die MPi-Schützen an den Wänden
grinsten dabei. Bald erschien in der Zeitung �Sarja� ein Artikel, in dem
stand, daß alle Invaliden des Stalags I-A einmütig der ROA
beigetreten waren. Wie konnte der deutsche Zensor die offensichtliche
Ironie dieses Artikels außer Acht lassen?
Ein anderes Mal wurden wir in ein Konzert der
Kriegsgefangenen gebracht. Sie sangen russische Volkslieder sehr
schön, tanzten Volkstänze, es spielte ein Streichorchester.
Es wurde warm. Ich verbrachte fast den ganzen Tag im
Freien (am Tage war es erlaubt, erst bei Einbruch der Dunkelheit wurden wir
in die Baracken hineingetrieben). Ich machte mich mit der deutschen Wache
bekannt. Die langweilenden Soldaten sprachen mit mir gern deutsch. Sie
erzählten über sich und ihre Familien, zeigten Photos. Die
meisten waren �Volksstürmer� (sie waren älter, als das
Einberufungsalter zuläßt, und wurden vom Führer gegen das
Kriegsende mobilisiert).
Neben unserer Baracke lag die Baracke der Franzosen,
die hier die Strafe für ihre Vergehen abbüßten. Am
Stacheldraht drängten sich immer Schnorrer und bettelten um einen
Zigarettenstummel.
Hier erfuhr ich mit Erstaunen, daß
französische Kriegsgefangene genauso wie Kriegsgefangene anderer
Länder außer der deutschen Ration noch Hilfe vom Internationalen
Roten Kreuz bekommen, mit Hilfe dieser Organisation Briefe an ihre
Verwandten schicken und von ihnen Pakete bekommen. Außerdem werden
die Verwundeten und Kranken ausgetauscht oder einfach aus der
Kriegsgefangenschaft freigelassen und sogar in der Kriegsgefangenschaft
bekommen die Kriegsgefangenen ihre Löhne, die auf ihre Kontos in den
Banken überwiesen werden, Uniform und Beförderung.
Einmal wurde ich von der französischen Seite auf
armenisch angesprochen. Das war ein französischer Armenier, der mich
irrtümlicherweise für seinen Landsmann hielt. Als er seinen
Irrtum einsah, setzte er das Gespräch mit mir im gebrochenen Deutsch
fort. Wie ich verstand, war er in Frankreich in einer armenischen Familie
geboren, die aus der Türkei während des von unserem �Kameraden�
Atatürk ausgelösten Gemetzels emigriert war. Nach seinen Worten
lebten in Frankreich viele Armenier, darunter auch Emigranten aus
Rußland.
��� Als Austauschgegenstände
zwischen unserer und französischer Zone galten
Löwenzahnblätter, aus denen die Franzosen Salate zubereiteten.
Sie tauschten diese Blätter gegen die Zigaretten sehr gern aus, darum
wurden diese Blätter auf unserem Gelände überall ausgezupft.
Außer den Franzosen gab es im Lager auch
Italiener. Sie wanderten über alle Lagerzonen frei. Durch das Rote
Kreuz bekamen sie die Hilfe in den Deutschen Marken, wechselten sie gegen
das �Lagergeld� und besuchten das Lagergeschäft (es hieß
�Kantine�), in dem sie Zigaretten kauften, für die sie Erzeugnisse
unserer Meister bekamen (Zigarettenetuis, Aluminiumlöffel, die aus dem
Soldatenmanteltuch und Filzschuhen genähten Pantoffeln).
Die Zeit verrann langsam. Ich glaubte, ich bleibe in
diesem Lager für immer. Ich dachte, ob dieser Krieg einmal endet und
ich mich an dies Tage nur erinnern werde?
Inzwischen kam der Sommer, meine Wunde zog sich fast
vollständig zu und ich stütze mich kaum auf meinen Stock. Ich
versuchte mehr um die Baracke herum und in der Baracke hin und her zu
gehen, um meine schlaffen Muskeln zu trainieren. Die Folgen der Quetschung
waren auch vorbei: mein Gehör verbesserte sich, nur mit dem rechten
Ohr hörte ich viel schlechter, als mit dem linken. Aber dieser
Hörverlust blieb bis jetzt.
Es kam die Meldung über den mißlungenen
Mordanschlag Hitlers. Die deutsche Propaganda legte die wunderbare Rettung
des Führers als Gottes Vorsehung aus.
Vom Osten war fernes Donnerrollen zu hören. Die
Annäherung der Front war schon zu spüren. Das war auch an einer
gewissen Nervösität der Wache und der Hektik der Wärter zu
sehen.
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