Fortsetzung
Einmal ertönte plötzlich das Kommando:
„Antreten!“ Ich holte meinen Soldatenmantel und Napf und ging mit den
anderen Einwohnern der Baracke zum Weg. Hier wurden wir lange aufgehalten
und mehrmals nachgezählt. Wir wurden in Hunderte aufgeteilt, ein
Hundert Menschen wurde mit zehn Begleitsoldaten umgeben, darunter einer mit
einem Hund, und aus dem Lager hinausgeführt. Zu Fuß gingen wir
bis zur Station, an der wir in die Güterwagen einstiegen. Die
Türen wurden geschlossen, wir blieben im Halbdunkel und der Zug setzte
sich in Bewegung.
Der Zug hielt oft und die Fahrt
dauerte nicht lange. Ich glaube, am nächsten Morgen hielt er schon am
Güterbahnhof der Stadt Thorn (deutscher Name der polnischen Stadt
Torun).
Thorn.
Auf der Vorkriegskarte
Deutschlands lag Torun im sogenannten „polnischen Korridor“: einem engen
Streifen Polens, der Deutschland von Ostpreußen trennte und Polen den
Zugang zum Meer gewährte.
Die
Stadt liegt am rechten Wisla-Ufer, die Eisenbahn, der Güterbahnhof und
der Bahnhof am linken, bebauten mit den Lagern und Güterschuppen.
Hinter der Eisenbahn, Bahnhofsbauten und der Straße ihnen entlang
erheben sich geneigte, mit dem Laubwald bewachsene Hügel. Am Fuß
eines dieser Hügel lag Fort 17, ein erhalten gebliebener Rest der
Festungswerke aus dem 19. Jahrhundert. Es gab mehrere Forte um die Stadt
herum, mit einigen davon sind auch diese Erinnerungen verbunden.
Vom
Festungswerk war die Straße mit einer hohen Steinmauer getrennt, oben
mit einem Metallgitter, mit dem Stacheldraht umgewickelt, versehen, und mit
einem Metallschiebetor. Neben dem Tor lag ein hohes mittelalterliches
Kommandanturgebäude mit vielen Kaminschornsteinen und einem steilen
Ziegeldach. Hinter der Umzäunung lag ein großer Hof, in die
Hügelhänge waren einige halbzylinderförmige Grotten
eingegraben, die in die Hügeltiefe liefen und Metalltüren hatten.
Wahrscheinlich waren diese Grotten früher als Lager benutzt worden. Am
im Halbkreis herabhängenden Ziegelgewölbe entlang wurden die Pritschen
errichtet und mit dem Stroh bedeckt. In diese Grotten wurden wir nach der
Ankunft hineingetrieben.
Nachdem
wir in diesen Grotten untergebracht, gezählt und die Ältesten
gewählt worden waren, durften wir in den Hof hinausgehen. Ich sah mich
um und besichtigte meinen neuen Wohnort, wo ich es durfte. Im Vergleich zum
Lager in Hohenstein war dieses Lager viel schlimmer. Der Hof, von hohen
Mauern umgeben, war zu klein für diese Menschenmengen, der Hof stellte
einen mit Sand beschütteten Platz dar, wo kein Gras wuchs. An einer
Hofseite gab es eine Verflechtung mehrerer Holzleiter, die zu den
geschlossenen Metalltüren in verschiedener Höhe führten.
Darauf saßen und sonnten sich alteingesessene Kriegsgefangene.
Aus
den Gesprächen mit ihnen erfuhr ich, daß der hiesige Tagesablauf
dem Tagesablauf in Hohenstein glich. Der einzige Unterschied bestand darin,
daß das Mittagessen von der Zeit der Rückkehr von der Arbeit
abhing und es hier keinen Tee gab. Das war ein Arbeitslager, die
Kriegsgefangenen sollten am Güterbahnhof die Wagen beladen und
entladen. Manchmal arbeiteten sie irgendwo noch. Manchmal konnte man etwas
auftreiben, etwas klauen und es dann gegen das Essen eintauschen. Manchmal
bildete man die die Mannschaften für die Arbeit in den Werken und Bauernhöfen.
Das letzte war der Traum aller Kriegsgefangenen.
Nach
vielen Jahren nach dem Kriegsende las ich zufällig eine Broschüre
mit der Erzählung eines Kriegsgefangenen über das Lager im Fort
17. Die Beschreibung dieses Lagers und seiner Ordnung stimmtevöllig
damit überein, was ich dort gesehen hatte. Es wurde dort auch ein
Vorfall aus dem Lagerleben kurz vor meinem Ankommen beschrieben, von dem
mir die Alteingesessenen erzählt hatten, aber etwas anders.
Der
Lagerleiter war ein Offizier, den niemand von uns je sah, er leitete das
Lager durch die Gefreiten und einen Unteroffizier, einem vorlauten und
eitlen Menschen, der ganz gut Russisch beherrschte. Bei aller seiner
Eitelkeit und Unberechenbarkeit zeichnete er sich durch eine gewisse
Gerechtigkeit aus. Ich erinnere mich, wie zwei Kriegsgefangene nach
Feierabend das Geklaute untereinander nicht teilen konnten und einander
verprügelten. Der Unter trennte sie und verteilte die Beute
eigenhändig, ohne sie ihnen zu entnehmen, was selbstverständlich
schien.
Dieser
Lagerleiter hatte einen Hund – einen großen kurzhaarigen Hund, einem
Dog ähnlich. Er lief im Hof herum, zwischen den Kriegsgefangenen und
umschmeichelte sie. Die Kriegsgefangenen konnten ihm nichts anbieten und
das Essen der Kriegsgefangenen war nicht für ihn: gekochte
Steckrübe aus der Suppe und hartes Brot, noch vor dem Krieg gebacken.
Man spielte mit dem Hund gern, neckte ihn scherzhaft, er knurrte, tat, als
ob er sich ärgerte, biß die Beleidiger, ohne die Kiefer
zusammenzudrücken.
Und plötzlich verschwand er.
Nach einiger Zeit bemerkte man seine Abwesenheit, zum ersten Mal erschien
der deutsche Offizier an der Außentreppe, rief den Hund, ließ
seine Gefreiten ihn suchen, aber alles war vergeblich.
Er
verstand, daß da etwas nicht stimmte. Er verhörte ganze Gruppen
von Kriegsgefangenen. Sie wurden verhört, verprügelt, in den
Karzer geworfen. Endlich verplapperte sich jemand: der unglückliche
Hund war in eine der Kasernen gelockt worden, getötet und aufgegessen.
Nach mehreren grausamen Verhören wurden die Entführer genannt.
Sie wurden weggebracht. Man munkelte, daß sie beim Fluchversuch
erschossen wurden.
Als
ich schon im Lager war, gab es auch einen erwähnenswerten Vorfall.
Einmal ging das Tor auf und in den Hof fuhr ein Traktor mit zwei
Anhängern voll von Brot hinein! Bevor die Deutschen etwas unternehmen
konnten, umringten die verhungerten Menschen die Wagen und plünderten
sie aus. Es stellte sich heraus, das ganze Brot war mit grünem
Schimmel bedeckt und durchgedrungen.
Es
waren nur wenige Deutsche da, sie konnten die Menschen mit den
Fußtritten und Kolben nicht auseinandertreiben und begannen sie aus
den Flinten und Maschinenpistolen zu erschießen. Die Menschen liefen
auseinander, neben den Wagen blieben nur einige Dutzende Erschossene und
sich krümmende Verwundete liegen.
Ich
war auch unter denen, die die Wagen ausplünderten, und ich kriegte
zwei Brote. Das war gut, denn am Vorabend entluden wir die Wagen mit
stinkenden Lebertrandosen. Wir brachen die verschimmelten Brotrinden ab,
tauchten dieses bittere Brot in den stinkenden Lebertran ein und aßen
es.
Am
nächsten Tag kochten uns die Lagerköche aus diesem Brot eine Art
Suppe, einem Brei ähnlich, sie war ganz eßbar.
Während
im Lager Hohenstein in einer Baracke immer dieselben Menschen waren, die
allmählich mit allen bekannt wurden, änderte sich hier der
Bestand unaufhörlich. Jeder Morgen begann mit einem Appell, bei dem
wir mehrmals nachgezählt wurden, mit Anschnauzern und
Fußtritten. Danach wurden die Nummern derjenigen genannt, die in
einer Mannschaft in andere Arbeitslager abtransportiert werden sollten. In
der Erwartung ihrer Nummern wurde es einigen übel, ein Nervenschauder
überlief sie. Von der Art der bevorstehenden Arbeit hing das Leben des
Menschen ab. Die Mannschaften wurden in die Werke, zum Aufbau der
Verteidigungsanlagen geschickt, sowie in die Bergwerke, wo auf sie die
Schwerarbeit wartete, aus diesen Bergwerken kamen viele nie wieder rauf. Es
ging das Gerücht um, daß die Kriegsgefangenenmannschaften zum
Bau der geheimen unterirdischen Kriegswerke geschickt wurden, nach dem
niemand am Leben blieb. Um das Geheimnis zu
wahren, wurden alle kriegsgefangenen Bauarbeiter von den Truppen
für Sonderaufgaben der „Organisation Todt“, die diese
Bauarbeiten leiteten, nach dem Ende der Bauarbeiten vernichtet. Ziemlich oft wurden
auch die Mannschaften für die landwirtschaftlichen Arbeiten gebildet.
Diese Zuteilung hielt man für Glück.
Die
Mannschaften machten sich schnell auf den Weg und neue Kriegsgefangene
kamen an, darunter viele „vom Bauern“. Wir umringten sie und hörten
uns ihre Erzählungen vom satten Leben an.
Nach dem Appell, der Bildung der
Mannschaften und ihrem Abtransport wurde das Brot nach dem schon bekannten
Verfahren verteilt (wie früher: je ein Brot für 12 Personen).
Dann holten die Begleitsoldaten die Brigaden ab, die in der Stadt oder am
Güterbahnhof arbeiten sollten. Einige Arbeitsstellen waren eine
Dauerbeschäftigung und dort arbeiteten auch dieselben Brigaden.
Manchmal waren die Arbeitstellen
vom Lager weit entfernt. Dann wurden die Kriegsgefangenen mit den
Lastkraftwagen oder mit einem Traktor mit dem Anhänger abgeholt. Wir
fuhren durch die Stadt, über die Wisla-Brücke, ich erinnere mich
an die hohen Steinufer mit den Schildern, die den Wasserpegel beim
Hochwasser in verschiedenen Jahren angaben. Wir fuhren über den
Zentralplatz in der Nähe von der Brücke mit einer riesigen
mittelalterlichen katholischen Kirche und einem Kopernikus-Denkmal davor.
Nach vielen Monaten an der Front und im Lager war es erstaunlich, eine
Stadt, die ihr gewöhnliches Leben lebt, zu sehen, die
Fußgänger, die in ihren Angelegenheiten gingen, die
Straßenbahnen, voll von Fahrgästen, schön gekleidete
Mädchen mit den Schultaschen, die in die Schule eilten, Bäckerei,
aus der Frauen hinausgingen, die lange appetitlich aussehende
Weißbrote in ihren Einkaufstaschen hatten. Unwillkürlich
erinnerte ich mich an die Stadt Kasan während des Krieges, abgezehrte,
in Lumpen gekleidete Fußgänger.
Einmal
beobachtete ich ein seltsames Bild. In der Staßenmitte marschierte
gegen eine Kompanie großer wohlgenährter Burschen in sportlich
aussehender grünlichbrauner neuer ausgebügelter Uniform. Hinter
dieser Formation schleppte sich, gebogen unter dem Flintegewicht, ein
ältlicher Volksstürmer-Begleitsoldat. Es stellte sich heraus, es waren
kriegsgefangene Engländer. (Wenn man uns begleitete, so hatten wir,
arme Teufel, einen Begleitsoldaten für je zehn Menschen, mit
Maschinenpistolen bewaffnet und oft auch mit den Hunden).
Am
Stadtrand gab es sehr viele alte Bauten, die als Festungswerke aussahen, in
denen sich verschiedene Lager befanden. Unter Aufsicht der deutschen
Wachposten, die die stets hungrigen Arbeiter auf Schritt und Tritt
beobachteten, damit sie nichts klauten, wurde immer etwas beladen,
entladen, hinübergetragen. Einmal hatten wir Glück: Der
Wachposten des Lagerhauses voll von Ballen mit den grauen
Soldatenstrümpfen (die Deutschen trugen keine Fußlappen, sondern
Strümpfe) bestand aus den rumänischen Soldaten, die an der Brust
schon mehrere Strümpfe versteckt hatten und taten, als ob sie uns die
Ballen ausschlachten nicht sahen. Wir kehrten ins Lager mit der Beute
zurück, konnten sie aber lange weder verkaufen noch gegen etwas
eintauschen.
Zweimal
hatte ich Glück in einer der Brigaden mit der festen Arbeitsstelle zu
arbeiten. Eine davon ging zur Arbeit zum Lager der englischen
Kriegsgefangenen. Es lag in der Nähe. Die Hügelkette, in einem
von denen unser Fort 17 eingebaut war, endete mit dem Hügel, in dem
das Fort 14 lag, das ich später ausführlich erlernte. In diesem
Fort befanden sich deutsche Waffen- und Munitionslager. Und daneben lag ein
Militärstädtchen mit den Holzplattenhäusern, mit einem
Holzzaun umgezäunt, dort wohnten deutsche Neueingezogene, die mit
Liedern auf einer großen Wiese marschierten, die weiter lag. Das glich
unserem Ersatzlager. Nach der Wiese war eine Stacheldrahtumzäunung mit
Wachtürmen des Engländerlagers. Um das Lager herum wurde ein
Abwasserkanal gegraben, für den wir die Gräben gruben.
Am
Nachmittag, nach dem Mittagessen in diesem Lager, bekamen wir seine Reste:
die Beilage: Reis oder Kartoffelmuss, Brotstücke, einen Napf mit dem
Rest der Erbsen- oder Bohnensuppe mit Fleischkonserven. Es begann unsere
„Magenfeier“. Brot, und manchmal gab es sogar Käse, nahmen wir mit und
unsere Raucher tauschten es im Lager gegen den Tabak ein.
In
den ersten Tagen sahen die Begleitsoldaten uns nur die Reste des englischen
Mittagessens vernichten, dann schlossen sie sich uns ungezwungen an.
Besonders freuten sie sich, wenn es Reis gab, dann stopften sie ihr
Kochgeschirr damit.
Der
Chef der Begleitsoldaten war ein ältlicher Stabsfeldwebel, der
polnisch sprach. Vom ihm erfuhr ich über die Lagerordnung. Das Lager
hatte seine eigene Verwaltung und die Deutschen mischten sich in seine
Angelegenheiten nicht ein. Die Wechselbeziehungen zwischen der
Lagerverwaltung und den deutschen Behörden wurden durch die Regeln auf
der Grundlage der Genfer Konvenz geregelt, die sowohl die Deutschen in
bezug auf die Kriegsgefangenen der Alliierten, als auch die Alliierten in
bezug auf die kriegsgefangenen Deutschen einhielten.
Die
kriegsgefangenen Engländer, wie mir einst der französische
Armenier erzählt hatte, bekommen ihre Löhne, die auf ihre Kontos in
den Banken überwiesen werden, Uniform und Beförderung.
Außerdem bekommen sie Hilfe vom Internationalen Roten Kreuz und
Pakete von ihren Verwandten. Darum hungern sie nicht, und ihr Essen ist so
gut, das die deutschen Wachposten sie darum beneiden.
Das galt für alle,
außer den sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Lage der
Kriegsgefangenen anderer Länder hing nur vom Wohlstand ihres Landes
ab. In dieser Hinsicht hatten es die Engländer, Amerikaner und,
teilweise Franzosen am besten, ihre Länder waren nicht so sehr vom
Krieg getroffen.
Wir
fühlten uns beleidigt und schämten uns vor den Alliierten
für unser Land, das sich zu seinen Kriegsgefangenen so schrecklich
verhielt.
Zur
Arbeit neben dem englischen Lager mußte ich einige Male gehen, bis
der Graben fertig war. Während ich dort arbeitete, sah ich ein paar
Male eine Raketenspur mit hoher Geschwindigkeit in den Himmel fliegen.
Irgendwo nordöstlich sollte eine „V-2“-Rakete gestartet werden, es gab
keine andere Erklärung für diese Erscheinung.
Noch
ein Glück war die Arbeit im Fort 16. Hier bekam ich aber einmal eine
bittere Lehre. Ich erzähle aber eins nach dem anderen.
Das Fort 16, das in der Nähe lag, stellte eine gut erhaltene und sogar
nach dem Maße des modernen Krieges eine recht bedeutende
Verteidigungsanlage dar. In der Hügeltiefe waren zahlreiche
unterirdische Gänge gegraben, die die halb in die Erde eingegrabenen
Bunker und Galerien miteinander verbanden. Der Hügel mit dieser
„Füllung“ war von einem 6 Meter tiefen sechseckigen Graben umgeben,
dessen senkrechte Wände mit Ziegeln verkleidet waren. Von innen gab es
hinter den Sechseckwänden am Bodenstand Gewölbegalerien mit
schmalen Schießscharten, so daß der Grubeninnenraum im Notfall
mit dichtem heftigem Feuer beschossen werden konnte.
Über den Gruben war eine leiche Holzbrücke geschlagen.
Auf der Insel in diesem Gruben lag ein Lager für Engländer und
Franzosen, es gab hier auch Kanadier. In diesem Graben begann man aus dem
Kalksandstein einen einstöckigen Seitenflügel aufzubauen,
vielleicht um den Karzer zu erweitern, der sich dort schon befand.
Wir
holten Ziegel, Sand und arbeiteten als Hilfsarbeiter bei den Mauern aus den
kriegsgefangenen Engländern.
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