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Luftbild vom Stalag VI-A neben
der Stadt Hemer, wohin ich sofort nach der Befreiung geschickt wurde.
Fortsetzung
Mischa rief mich aus der
anderen Ecke des Krankenzimmers zu, er war auch da hingeraten. Nach seinen Worten,
wären ihm ebenso wie mir die Füße stark abgefroren, der
Arzt fürchtete Gangrän und
beabsichtige, einen Teil des Fußes abzutrennen. Der rechts von mir
liegende Nachbar erwies sich als mein Landsmann aus Moskau. Er hieß
Anatolij Iwanow, und vor dem Krieg spielte er Cello im Orchester des
Bolschoj-Theaters. Es kam ein Gespräch auf, Themen gab es genug: wir
erinnerten uns an Moskau, Tretjakow Galerie, Kulturpark mit seinen
Vergnügungseinrichtungen, der damals in Moskau nicht weniger bekannt
war, als das gegenwärtige Disney Land in der USA. Wir erinnerten uns
auch an Musikstüke des Bolschoj Theaters, die ich im Rundfunk
gehört hatte. Besucht habe ich nur „Dubrowskij“ und „Krasnyj Mak“. Ich
versuchte, mir die bekannten Arien zu pfeifen, und er korrigierte mich. Er
erzählte ausführlich vom Inhalt der Theateraufführungen, von
Bühnenbildern und Dekorationen, von Kostümen der Schauspieler,
von Darstellern. Das war interessant und half, die langsam vergehende Zeit
zu verkürzen. Man brachte Röhrchen, um Lungenauswurfprobe zu
nehmen - Prüfung des Bestandes
an Tuberkulosebakterien. Man sagte, bei wem die gefunden werden, dem kommt
zusätzliche Ernährung zu. Anatolij bat mich, in sein
Röhrchen zu spucken, da er daran nicht zweifelte, dass man bei mir die
Tuberkulosebakterien findet. Ich tat so, und tatsächlich in einigen
Tagen machte man mich und ihn bekannt, dass uns die zusätzliche Ration
zukommt: drei gekochte und nicht geschälte Kartoffeln und ein Glas entrahmte Milch.
Es war ein sehr bedeutender Zusatz zur Lagerernährung.
Ich kann mich nicht unterbrechen, ohne mich in die Zukunft zu versetzen.
Als ich 1947 in Moskau im Urlaub war, begab ich mich, ihn unter der
Adresse, die er mir hinterließ, Marx - und - Engels - Strasse 6 (oder
10), zu suchen. Ich fand mühelos diese Straße hinter dem
Gebäude der Lenin-Bibliothek, die dem Bibliothekgebäude
gegenüberliegende Seite bestand aus alten Moskauer Höfen mit
zweistöckigen Holzhäusern, die heutzutage abgerissen sind. Ich
betrat den Hof und fragte nach Anatolij Iwanow. Jemand von den Einwohnern
schaute mich erstaunt an und zeigte mir die Wohnung. Ich klingelte, und man
ließ mich herein, nachdem man erfuhr, wer ich war und warum kam.
Anatolijs Frau erzählte mir, dass er vor einigen Monaten an
Tuberkulose gestorben war. Mir blieb es nur übrig, den
Familienangehörigen mitzuleiden und ihnen von den Tagen, die ich mit
ihm zusammen im Lazarett des deutschen Gefangenenlagers verbracht hatte, zu
erzählen. Wie erstaunlich und tragisch entwickelt sich das Schicksal!
So
flohen die Tage, einer nach dem anderen, und sie waren einander so
ähnlich, dass es schwer war, zu merken, wie die Zeit verläuft.
Viel Ärger bereiteten sich vermehrte Wanzen. Es gab keine Rettung von
denen. Die Bettfüße waren in die mit Wasser gefüllten
Gläser hineingestellt. Die verdammten Insekten stürzten aber von
der Decke hinab.
Ich
hatte die gewaltigen Hungeranfälle. So was hatte ich sogar an meinen
schlimmsten Hungertagen nicht gehabt. Der genesende Organismus bedurfte
wohl zusätzlicher Ernährung. Eines Tages konnte ich der
Versuchung nicht widerstehen und aß eine Scheibe Margarine mit
Kristallzucker, die meinem Nachbarn von oben gehörten, genau dem, der
mir geholfen hatte, das Glas mit Speck zu reinigen. Das hatten die Nachbarn
bemerkt, und ich musste ihm dafür meine Brotportion abgeben.
Nur
wenige Ereignisse sind in diesem Strom der monoton vergehenden Zeit
auszusondern. Das wichtigste war die Gangrän bei Mischa. Zuerst wurde
sein rechter Fuß abgetrennt, Gangrän verbreitete sich aber
weiter, und das Bein wurde über dem Knie amputiert. Es half aber auch
nicht. Nur wenige Tage vor der Befreiung wurde er ins Krankenzimmer
für Sterbende hingetragen. Ich begann schnell zu genesen. Einmal sagte
Doktor Gradoli an mir vorbeigehend: „Oh, Sie sind tolstoj!“ * Und tatsächlich,
Fleisch setzte allmählich über meine Knochen an, ich fing an,
mich manchmal im Krankenzimmer zu bewegen, an die Wände festhaltend
und auf die Krücken stützend (ich weiß nicht mehr, woher
ich die hatte).
Eines
Tages, anscheinend Mitte März, hörte man abends in der Nähe
das Gewehr- und Maschinenpistolenfeuer. Es stellte sich heraus, im den
russischen Kriegsgefangenen zugewiesenen Teil des Lagers gab es einen
Aufstandsversuch. Vom allmählichen Heranrücken der Front vom
Westen wissend (die Alliierten beeilten sich nicht besonders), entschieden
sie, sich freizulassen. Der Versuch misslang, alle wurden ertappt, viele
erschossen.
In unseren Lazarettbaracken
tauchten Deutschen und russische Polizisten nicht auf. Manchmal kam ein
Kaplan in der Uniform des deutschen Unteroffiziers, russischer Priester der
protestantischen Kirche. Er gab uns dünne Broschüren der
religiösen Inhalt zum Lesen, die zu primitiv geschrieben waren, an
ungebildete Leser gerichtet. Einst verteilte man eine Dose Kondensmilch pro
zwei Personen – Geschenk des Schweizerischen Volkes den russischen
Kriegsgefangenen, so stand auf dem jede Dose umwickelten Zettel.
Man spürte offenbar das
Heranrücken der Front. Um das Lager herum (aus dem Barackenfenster war
der äußere mehrreihige Drahtzaun mit Wachttürmen und darauf
stehenden Wachleuten zu sehen) erschienen hohe Stöcke mit weißen
Flaggen, worauf die roten Kreuze aufgetragen wurden. Deutsche Wachleute
trugen auch Armbinden mit rotem Kreuz. Durch die Baracken ging ein
Vertreter des neulich organisierten Lagerkomitees. Er las die von dem
Komitee geschriebene Anrede an die Leitung der Alliierten vor, wo die Notlage der Tausenden
Kriegsgefangenen beschrieben wurde (ob man die Lage der Engländer und
Franzosen, die nur an die Trennung von Verwandten litten, als Notlage
bezeichnen könnte?) Diese Anrede sollte mit einem Boten abgeschickt
werden, für den man das Entweichen organisieren musste. In einigen Tagen, ich
war sogar erstaunt wie schnell, flog ein englischer Jäger das Lager
über und warf einen Wimpel hinunter. Man ging durch die Baracken und
las folgende Mitteilung vor:
- Ihr
Bote ist angekommen. Die Leitung der alliierten Mächte weiß von
Ihrer Lage und trifft Maßnahmen für Ihre alsbaldige Befreiung.
Warten Sie und nehmen Sie sich keine Befreiungsversuche vor: sie erschweren
die Kriegshandlungen unserer Mächte. Vernichten Sie faschistische
Agenten. Befehlshaber der 4. Armeegruppe der alliierten Mächte,
General (anscheinend Montgomery oder Clark).
Mitte
April könnte man den Lärm der Front deutlich hören.
Englische Flugzeuge rasten über unseren Köpfen vorbei, irgendwo
unweit Bomben abwerfend. Einmal sagte man uns, dass wir jene Nacht die
Barackenfenster offen lassen mussten, da ein Kraftwerk
gesprengt werden musste, und Fensterscheiben eingeschlagen werden
könnten. Es gab doch keine Sprengung.
Aus
dem Barackenfenster war hinter dem äußeren Lagerzaun ein kleiner
deutscher Bauernhof zu sehen. Dessen Einwohner begannen, die Gräben
direkt neben dem Drahtverhau zu ziehen, es war nicht klar, wozu sie die
brauchten. Wir spürten, dass die Wendungen nah waren. Statt Brot
bekamen wir je eine Portion Galetten. Davon konnte man satter werden, als
von „Ziegelsteinen Ausgabe 1939“. Später geschah etwas einer
Überraschung vor dem Feiertag ähnliches: man teilte uns
amerikanische Pakete mit zusätzlicher Verpflegung eins pro zwei
Personen aus, die unverlangt in einem
Lebensmittellager liegen geblieben waren. Dann wurde es klar, warum
unsere sich in Gefangenschaft befundenen Alliierten so aussahen, als ob sie
an einem Kurort waren. In einem pro Person für eine Woche vorgesehenen
Paket gab es soviel Lebensmittel, dass man sogar zwei Wochen lang ohne
deutsche Verpflegung auskommen könnte. Darin lagen: zwei Dosen
Kakaopulver, zwei Dosen Trockenmilch, eine circa 2 Kilo - Packung Zucker,
einige Dosen mit Konzentraten (Suppen, Haferbrei), eine Packung
Brühewürfel, einige Packungen Galetten und Kekse, Trockenobst,
eine Dose Eierpulver, Kaugummi (den wir für Fruchtgelee, das aus
irgendeinem Grunde so hart war, hielten), einige Dosen mit Zigaretten
„Camel“, Toilettenpapier.
Am 26.
April rückte die Front dicht heran. Bekannte knallende Laute der
krepierenden und beim Anflug heulenden Minen und Geschosse, der stürzenden Bomber,
Ausbrüche der Explosionen. Das alles eng neben dem Lagerzaun. Entweder
keine einzige Mine, kein Geschoß oder keine von einer oder anderen
Seite abgeworfene Bombe flogen doch ins Lager hinein. Nur verirrte Kugeln
zischten und trafen selten die Barackenmauern. Drei Tage lang, vom 26. bis
29. April, befand sich das Lager in der neutralen Zone zwischen den Linien
der Deutschen und Alliierten. Ans Fenster heranschleichend, hatte ich eine
seltene Möglichkeit, den Verlauf der Kampfhandlungen zu beobachten,
ohne mein Leben zu riskieren. Es wurde klar, warum die Einwohner des
Bauernhofes neben den Lagermauern die Schützengräben für
sich ausgehoben hatten: hier waren sie verhältnismäßig in
Sicherheit. Ich versuchte, es mir vorzustellen, wie es gewesen wäre,
wenn sich das Lager zwischen unseren und deutschen Linien befände!
Während
aller diesen drei Tage hielten die Engländer den vorderen Rand der
Deutschen unter Artillerie- und Granatfeuer, bombten und stürmten mit
Flugzeugen. Die Deutschen antworteten zuerst ziemlich intensiv, danach
waren ihre Feuermittel niedergehalten. Am 29. April entschieden sich die
Engländer für einen Angriff, sie liefen, sogar ohne sich
herunterzubiegen, und gaben Feuer
aus Maschinenpistolen. Falls es bei den Deutschen in halb zerstörten
Unterständen noch jemand am Leben war, so wurde er betäubt und
völlig demoralisiert durch so eine Feuerdichte gewesen.
Befreiung
Am 29. April 1945 war also
das Lager befreit, und, den Drahtzaun zerschmettert, ließen sich die
jubelnden Kriegsgefangenen frei. Bewohner der anliegenden deutschen
Siedlungen waren nicht zu beneiden. Die ausgehungerten russischen
Kriegsgefangenen hatten bestimmt keine großen Gewissensbisse, als sie
alle Lebensmittelvorräte der deutschen Bauern vernichteten.
Die
Amerikanische MP war bald gezwungen, das Lager unter ihren Schutz zu
nehmen. Es war aber unmöglich, die Leute, die zum ersten Mal während der Jahre der Gefangenschaft
Freiheit gespürt hatten, dazubehalten, ohne ihnen Gewalt anzutun, und
das könnten sich die Amerikaner nicht gönnen. Diejenigen, die
fähig waren, zu laufen, suchten in Umländern herum, vor allem
nach Alkohol, da es am nächsten Tag nach der Befreiung schon keinesfalls
ans Essen mangelte. Es kamen kanadisches üppiges Weißbrot, echte
Butter und Milch, eine Menge Dosen mit Fleisch und Wurst auf. Die Folgen
dieses Überflusses waren traurig: bei vielen hielten ihre Magen nicht
aus, sie bekamen Hungerdurchfall, dessen Symptome der Ruhr ähnlich
waren, und die Qualen der Gefangenschaft bis zum Ende ertragen, starben an
Unmäßigkeit. Darunter war auch mein Nachbar vom oberen Bett, von
dem ich schon erwähnt habe.
Man
verlegte uns aus den von Wanzen okkupierten Holzbaracken in gut
ausgestattete Ziegelkasernen, die die Engländer verlassen hatten, und
zog während einer Woche oder länger ärztlicher Untersuchung
unter. Zu diesem Zweck wurde am Territorium unseres Spitals ein
Feldlazarett aufgeschlagen, wo katholische Nonnen als Krankenschwestern
tätig waren (ich kann es nicht begreifen, warum die katholisch waren,
Engländer sind doch keine Katholiken).
Die
gefangenen Engländer und Franzosen verließen das Lager fast
sofort. Mit den Russen blieben noch
lange Zeit Polen, Italiener und Serben zusammen. Die ganze Zeit besuchten
uns, Invaliden, wohlwollende „Delegationen“, sowohl der ehemaligen
Kriegsgefangenen Alliierten als auch Soldaten der uns befreiten
Armeegruppe. Die Engländer, in ihrer der Sportkleidung ähnlichen
grünlichbraunen Uniform, drückten ihre Freundlichkeit verhalten
und korrekt aus. Die grölenden Amerikaner umarmten uns dafür
lärmend und hemmungslos, mit den Händen auf den Rücken
klopfend. Alle brachten immer etwas mit, vermutlich dachten sie, dass wir
niemals satt werden.
Am 8.
Mai wurde das Kriegsende und totale Kapitulation Deutschlands erklärt.
Dieser Tag verging fast unauffällig: für uns war der Krieg eine
Woche früher zu Ende.
Bald
holten uns englische Krankenwagen ab, die mit Hängebetten ausgestattet
waren, und transportierten uns in das mit zwei- und dreistöckigen
Häusern aus weißem Ziegel bebaute Städtchen. Wie es sich
herausstellte, gab es hier vor dem Krieg Kasernen, und während des
Krieges das Gefangenenlager Hemer (Stalag VI-A). Da sind noch heute die Bundeswehrkasernen.
Hier gründeten die Engländer und Amerikaner ein Lager „für
verschleppte Personen“ aus Russland. Ein der Gebäude wurde für
das mit einem Verband- und einem Operationsraum ausgestatteten Lazarett
zugewiesen, wo ich hingeraten war.
Dank der qualifizierten Pflege wurden meine
Wunden schnell vernarbt, es blieben nur unheilbare Fisteln. Die Ärzte
nannten es Osteomyelitis. Ich fing an, gewandt mit Krücken zu gehen,
und es tat sehr weh, auf den rechten Fuß zu treten.
Im
Lager herrschte höchst reges Leben. Man ging scharenweise von einem
Lagergebäude zu dem anderen, um
Landsleute zu finden, die man während des Aufenthaltes in
verschiedenen deutschen Lagern kennen gelernt hatte. Wilde Szenen
passierten auch, wenn man in jemandem einen ehemaligen Polizisten erkannte,
der in der Menge der Gefangenen zu verschwinden versuchte. Der wurde
besonders brutal verprügelt, und falls die Administration es nicht
schaffte, sich rechtzeitig einzumischen, getötet.
Die aus der Gefangenschaft befreiten Leute
berauschten sich einfach an ihre Freiheit. Die größte Sorge
war natürlich das Beschaffen
vom Alkohol. Man suchte in Umländern herum, tauschte Alkohol und
Selbstgebrannte gegen Lebensmittel und Kleidung (im Lager gab es einen
Lagerraum voll gestopft mit gebrauchten Kleidung und Schuhen). Dort suchte
ich mir ziemlich anständige Kordhose, ein Hemd, eine deutsche Jacke
und robuste Schuhe aus. Bewohner eines der Lagergebäude fuhren mit
einem Auto ohne Reifen, nur mit Felgen umher.
*Anmerkung des Übersetzers: Wortspiel: Tolstoj ist der Name eines
bekannten russischen Schriftstellers, das Wort "tolstyj" bedeutet
im Russischen "dick".
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