|

Gedenkstätte “Ehrenhain Zeithain” Riesa (Sachsen) – Haupteingang
Ende
Wir kamen zum Gartentor, mein Herz
schien aus der Brust zu springen, so stark schlug es. Wir klopften. Die
Tür wurde von einer angejahrten Frau geöffnet, hinter ihrem
Rücken war bekannte hohe Gestalt zu sehen, die abetragen, sogar schäbig
gekleidet war. Als er uns sah, wurde er bleich und erstarrte wie eine
Säule. Ich weiss nicht, ob er mich erkannt hatte, er wusste aber
sicherlich, wozu wir gekommen waren. Ich kann nicht klug werden, warum er
in Torun in feindlicher Nachbarschaft geblieben war. Hoffte er etwa, dass
die Vergeltung an ihm vorbeigeht?
Ich nahm
meine Pistole heraus, ich bemühte mich nicht zu schreien:
- Na, du
Luder, hast du es erwartet, psja krew, cholera jasna? Soll ich dich gleich
abknallen oder erst zur Kommandatur abführen?
Er schwieg, er konnte Worte nicht
finden, die danebenstehende Frau warf sich ihm an den Hals, ein
Mädchen lief aus dem Haus und schloss sich ihr an. Es ertönte
hysterisches Gejammer. Die Nachbarn zogen zum Gartentor und beobachteten
diese Szene, ohne sich einzumischen und ein Wort fallen zu lassen.
- Mach deine Sachen bereit, wir gehen zur
Kommandatur, ich verschwende keine einzige Kugel für dich. Da
passierte mir etwas, ich fühlte mich so übel, als ob ich meine
ganzen Innereien herausbrechen würde.
Ich machte
eine wegwerfende Handbewegung, drehte ihm den Rücken und ging im
Schweigen zurück, meine Gesellen folgten mir befremdet. Danach
überzuegte mich mein Bekannter (leider kenne ich weder seinen Namen
noch woher er kam), dass ich mich schwachmütig benommen hatte. Ich
bereute selbst, dass ich die Sache nicht beendet habe. Ich glaube, dass
falls er nach unserem Besuch nach Westen nicht fluchtete, liess man ihn
nicht in Ruhe, seine “Heldentaten” waren den Nachbarn bekannt.
Bald wurde
ich in die Sondertruppe bestellt. Der junge höfliche Kapitän
fragte lange über Umstande aus, unter denen ich gefangen genommen
wurde, und schrieb alle meine Worte ins Protokoll. Er machte sich auch
Notizen, in welchen Lagern ich mich aufhielt und wer meine Worte
bestätigen konnte. Es kam dazu auch einpaar mal. Es wurden Vornamen
und Familiennamen genannt, gefragt, ob ich etwas von ihnen wusste. Es war
nichts geheim zu halten, niemandem, den ich getroffen hatte, konnte ich
nachsagen, dass er mit Nazis oder Wlassow Anhängern verbunden war. Die
anderern Verhörten fragte man vermutlich auch nach mir, ihre Angaben
wurden in Kauf genommen und in meine Personalakte einbezogen.
Oft wurden
Gruppen gebildet, die nach Osten gingen, wie es hiess “um Kriegsdienst
weiter zu leisten”. Mit der Zeit kamen aber bedrohliche Gerüchte in
Umlauf. Die Quelle dieser Informationen ist unbekannt, man sagte aber,
stattdessen gerieten sie in die Hände des Abwehrdienstes “Smersch” und
kamen in die Lager des “Gulag”. Es hiess, jemand erhielt einen Brief von
den Verwandten, die einen nach Osten Gefahrenen und Vermissten gesucht
hatten.
Unter den
Soldaten und Offizieren der Fronttruppen, die mir öfters begegnet
waren, waren einige, insebesondere die an den Kampfhandlungen nicht
teilgenommen hatten (die letzten Kampfhandlungen waren bereits seit 6
Monaten zu Ende), feindlich gesinnt gegenüber ehemaligen
Kriegsgefangenen. Öfters erinnerte ich mich an die Geste des Offiziers
an der Demarkationslinie. Dass Hunderttausende Soldaten und Offiziere, die
vorhin vermisst geworden waren, aus der Gefangeschaft zurückkehrten,
wurde nicht einmal in den Zeitungen erwähnt, als ob dieses Problem
nicht existierte.
Ich war
äusserst alarmiert durch diese Gerüchte. Ich hatte keinen Wunsch, hinter schwedische Gardinen zu
kommen, insbesondere in meiner Heimat. Meine Besorgnis vertiefte sich
dadurch, dass ich Sohn der “Volksfeinde” war (meine Eltern kamen in
Stalinlagern ums Leben). Ich
bedauerte wieder meinen Verzicht, meinen Kriegsdienst im Lazarett zu beenden.
Einmal
wurde erklärt: wer freiwillig nach Kaukasus als Angehöriger einer
Bautruppe gehen will, soll sich melden. Ohne lange nachzudenken, meldete
ich mich und wartete auf den Marschbefehl. Im Dezember 1945 begann die
Verladung in einen Zug, der aus unbeheizten Güterwaggons bestand.
Zum letzten Mal ging ich auf der Strasse spazieren, die neben dem
Bahnhof lag. An der Festung aus dem 17. Jahrhundert vorbei, dessen Tore
verschlossen waren. Sobald das Signal ertönte, nahm ich Platz auf der
Pritsche im Güterzug.
Drang nach Osten
Der Zug
rollte an, langsam fuhren wir an Torun vorbei und setzten unsere Reise
durch Polen fort. Wir hielten oft an den Stationen. Entgegen kamen die
Züge mit erst mobilisierten Soldaten unter dem Kommando junger Leutnante,
die wie auch Soldaten gekleidet waren - in Schuhe mit überzogenen
Lappen.
Nach
Westen gingen die Züge mit den Deutschen, die aus Ostpreussen
ausgesiedelt wurden. Es tat weh, deise armen Menschen, die ehemaligen
Feinde, zu sehen. Auf den Stationen schwärmten sie aus den Waggons,
mager, hungrig. Sie waren froh jedem Stück Brot, das ihnen ehemalige
Kriegsgefangene und Otarbeiter herhielten, die Leute, die noch vor kurzem
ihre Knechte waren. Immerwieder kam mir ein Gedanke in den Kopf: Hatte ich
je einen Deutschen gesehen, der mir Brot gegeben hatte? So was erlebte ich
nicht.
Der Zug
ging nur langsam durch Polen. Wir machten eine lange Station im
rechtsufrigen Bezirk Warschau, Prag. Hier im ruinierten Stationsgebauede
wurde einer der unsrigen getötet, der nachts aus dem Waggon rauskam,
um Wasser zu holen.
Je
östlicher ging es, desto mehr Feindlichkeit seitens der Polen war zu
spüren. Ich erinnerte mich an die Begegnung mit ihnen in Holm und
Gabelsdorf, wo wo man uns freundlich empfing, und konnte keine Gründe
dazu finden. Nur nach vielen Jahren konnte ich erfassen, woran es lag.
In einem
Waggon war Feldküche untergebracht, also ausser Kaltverpflegung und
Brot gab es auch Warmverpflegung. Wir litten nicht nur keinen Hunger,
sondern teilten Essen mit den in Richtung Ost fahrenden Frauen, die vorhin
nach Deutschland getrieben waren.
Bereits im
Winter passierten wir die Grenze. Armut und Ruinen fielen gleich auf. Auf
den Stationen begegneten uns in Fetzen gekleidete Frauen und Kinder – sie
hofften, einen ihrer Angehörigen zu treffen. Sie hegten Hoffnung,
etwas von ihnen zu erfahren. Obwohl die Begleitoffiziere schimpften, nahmen
wir Mitreisende und teilten unser Essen mit ihnen.
Wir
hörten uns ihre Erzählungen an über das neue friedliche
Leben in Kolchosen – über verdiente Arbeitseinheiten, für die man
nichts haben konnte: die ganze dürftige Nachkriegsernte wurde vom
Staat genommen. Für Hofgrundstücke, die einzige Existenzquelle,
sollte man hohen Naturallohn zahlen, dazu noch Gelddarlehen…
Die
meisten Menschen im Waggon waren Bauern,
diese Erzählungen wirkten auf sie bedrückend. Der
Unterschied zwischen dem Lebensstandard des siegreichen Russlands und des
besiegten und teilweise ausgeraubten Deutschlands, des befreiten und ebenso
ausgeraubten Polens war offensichtlich.
Unser Weg
führte durch die Ukraine, das Gebiet Rostow, überall
zerstörte Stationen, provisorische wiederaufgebaute Brücken. Wir
fuhren auch Rostow durch, hielten aber ein paar Minuten lang. ich hatte nur
die Gelegenheit, mir den ruinierten Bahnhof, zerbombte gut bekannte
Stationsbauten, die in die Luft gesprengte berühmte Fallbrücke
(daneben wurde eine neue Notbrücke auf Holzpfeilern errichtet)
anzusehen. Ein langer mehrtägiger Weg auf der transkaukasischen Verkehrsstrasse,
an Machatschkala vorbei, weiter an der kaspischen Küste an rechts
ausragenden Bergen vorbei. Wir passierten die bekannte Station Baladschary
und kamen schliesslich Anfang Februar oder Ende Januar in Baku an. Hier
riechte es schon nach Frühling.
Der Zug
stand ziemlich lange auf dem Reservegleis. Dann kamen allmählich
Studebakers, wir wurden listenmässig vorgerufen, in die Autos gebracht
und gelangten in unsere Truppen.
Baubataillon
Man nannte
auch meinen Namen. Wir stiegen in LKWs ein, einige Stunden lang fuhren wir
auf Bergstrassen, passierten die Urhauptstadt Aserbaidschans Schemachu, die
neuerlich durch das Erdbeben zerstört wurde, und gelangten zum
Endpunkt unserer Reise: Siedlung Aschu, nicht weit von der Stadt Kjurdamir,
wo das 91. Sonder-Strassen-Bau-Bataillon stationiert wurde.
So fing
mein Dienst in Bautruppen an. Ich erinnerte mich an die Können, die
ich in der Fachschule erworben hatte, einige Zeit war ich als dem
Bataillonstab zugeordnet, (“Schreiber” ist immernoch in meinem Wehrpass als
Ausbildungsberuf angegeben), dann übte ich den Beruf Elektroschweisser
aus. Ich kannte mich gut in den Strichzeichnungen aus und erlernte die
Handhabung von Vermessungsinstrumenten – dem Theodolit und Nivellier, als
wurde ich nach einiger Zeit Meister.
1948 wurde
ich aus dem Militär entlassen, ich zog nach Saratow und erkannte
sofort, welche Schwierigkeiten mir das Stigma eines Kriegsgefangenen bei
der Stellungsuche bereitete. Ein Interimszeugnis statt des Passes,
“Besondere Einträge” im Wehrpass, in denen meine Gefangenschaft
angegeben war – diese Umstände riefen entsprechende Reaktion der
Personalchefs der Baubetriebe hervor, deren Leitung war bereit, mich
einzustellen.
Dieses
Stigma hing über mir wie ein Damoklesschwert: ich fühlte mich als
minderwertiger Bürger im Land, in dem ich lebte, studierte, arbeitete
und für die ich beinahe mein Leben geopfert hätte…
|